Rezension- Vatersuche - Ute Scheub

Noch so einer.

Die Journalistin Ute Scheub ist die Tochter des Apothekers Manfred Augst. Dieser hat 1969 auf dem evangelischen Kirchentag in Stuttgart Selbstmord begangen. Seine letzten Worte, die er vor zweitausend Kirchentagsteilnehmern formulierte, lauteten: " Ich grüße meine Kameraden von der SS" !

Wer dieser Mensch war, hat sich Günther Grass, der als Redner bei der Veranstaltung zugegen war, schon damals gefragt. Ute Scheub, die zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt war, stellt sich diese Frage noch immer. Die Autorin schreibt von ihrem Hass auf diesen Mann, mit dem sie sich fünfunddreißig Jahre nicht befassen wollte, weil er zu seinen Lebzeiten durch sein Schweigen, seine unnachgiebige Härte und seinen generellen Mangel an Empathie seine gesamte Familie tyrannisierte.


Ute litt unter diesem fürchterlichen Despoten, dem sie sich nicht entziehen konnte, weil sie noch ein Kind war. Was hat ein Mensch im Laufe seines Lebens getan, um so zu verhärten? Weshalb ist der Mann schließlich freiwillig aus dem Leben geschieden? Genau diesen Fragen spürt die Tochter nach. Sie setzt sich mit den Aufzeichnungen ihres Vaters auseinander, der schon in den 30er Jahren als SS- Mann den Willen Hitlers, der zu seinem eigenen wurde, gnadenlos in die Tat umsetzte. Die Sprache Manfred Augsts war noch 1969 sehr nationalsozialistisch eingefärbt.

Der Apotheker hatte es nicht geschafft sich der alten Ideologie zu entledigen, weil er nicht bereit war seine Handlungen, die er während der NS-Zeit begangenen hatte, zu hinterfragen. Anstelle sich mit seinem Unrecht auseinanderzusetzen, verschanzte er sich stattdessen in seinem mentalen Bunker, wie Scheub konstatiert, der ihm allerdings den Zugang zu seinen Mitmenschen verwehrte. 1934 begann Augst in Jena " Rassenkunde und Anthropologie " zu studieren. Sein Pharmazie -Studium absolvierte er erst zu Ende der 50er Jahre während der immer noch naziverseuchten Adenauer-Ära, mit der sich die Autorin in der Folge detailliert beschäftigt. Auch zeigt sie Zusammenhänge zur 68er Bewegung auf, die sich nicht als normaler Generationenkonflikt begreifen lässt, sondern vielmehr die zwingend notwendige intellektuelle Auseinandersetzung mit den vielen Alt-Nazis im neuen Establishment war. Augsts ursprünglicher Berufswunsch war der des " Zuchtwarts".


Allein die Berufswahl sagt viel über den Grad der Verblendung dieses Mannes aus. Wie groß die Anzahl der Menschen war, die er anschließend in Polen und in Norditalien kaltblütig ermordet hat, lässt sich nur erahnen. Ute Scheub konnte es nicht in Erfahrung bringen, nicht zuletzt, weil die alten Seilschaften sich nach Kriegsende gegenseitig Alibis verschafften und Tatbestände erfolgreich vertuschten. Aber die Tochter vermutet, dass ihr Vater seine Krieghandlungen erbarmungslos durchführte. Die Autorin hat sich wirklich breitgefächert mit der NS-Zeit befasst und das wohl schon seit ihrem Politologie- Studium. Sie schreibt von den Verbrechen der Deutschen an den Juden, den Sinti und Roma und an den vielen Zivilisten unterschiedlicher Nationalitäten in ganz Europa und thematisiert die Absurdität des Rassenwahns, das absonderliche Sippendenken und die nationalsozialistischen Wertvorstellungen, wonach das Volk alles ist und der Einzelne nichts bedeutet und ein Freund, im Gegensatz zu einem Kameraden ein beliebig ersetzbarer Mensch ist.


Die Unfähigkeit einer ganzen Generation Mitleid mit den Opfern zu empfinden hat Folgen für die Kinder , wie Psychologen erforscht haben. " Schuldgefühle, Hass auf den Vater, Autoaggression, Ängste, ungreifbar wie wabernde Nebelschwaden. Das Gefühl ein Nichts zu sein. Unwertes Leben zu sein..." Ute Scheub wollte sich von all dem befreien, indem sie sich mit der Person Manfred Augst intellektuell auseinandergesetzt hat. Der Sohn eines kaltherzigen, geizigen, pietistischen Vaters,- eines schwäbischen Volksschullehrers - wurde von diesem gnadenlos gedrillt und führte im Grunde ein sehr einsames, bedauernswertes Leben.Trotz dieser frühkindlichen Missstände und unheilvollen Prägungen kann Manfred Augst die Verantwortung für sein menschenverachtendes Tun aber nicht abgesprochen werden. Dies sieht auch seine Tochter Ute so.


Nach dem Krieg engagierte sich Augst in der evangelischen Kirche, die , wie Scheub recherchiert, während der NS-Zeit leider selten wirklich klare Stellung gegen das monströse Treiben der Nazi-Schergen bezogen hat. Die christlichen Werte blieben Manfred Augst bis zu seinem Tod fremd. Er klagte die Kirche an, weil sie ihm nicht das zu geben vermochte, was er so dringend benötigte. Was dies tatsächlich war, konnte er bis zu seinem Tod nicht konkret definieren. Dem alten SS-Mann gelang es nicht seine Schuld anzunehmen.


Er verweigerte sie und lebte durch seinen Selbstmord stattdessen ein archaisches Opferritual aus, durch das er offensichtlich auf die vielen , wie er glaubte, unverstandenen Kameraden der SS aufmerksam machen wollte. Seine Frau und seine vier Kinder waren für ihn kein Thema. Sie ließen ihn letztlich kalt. Die Bunkermentalität verstellte Augst den Blick für das Leid anderer, selbst seiner Nächsten. Ute Scheub hat sich durch ihre tiefgehenden Reflexionen vom Schatten ihres Vaters befreien können. Sie hat ihre Traumatisierung hinter sich gelassen und kann sich nun endlich dem Hier und Heute zuwenden!

Ein kluges, wichtiges Buch einer feinfühligen, intelligenten, bemerkenswerten Frau!

Empfehlenswert!





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